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STADTGEFLÜSTER

Das Europahaus: Hier wurde Fuldaer Geschichte geschrieben

Was soll aus dem Kaufhof-Gelände in der Innenstadt werden? In den 50er Jahren stand an gleicher Stelle das Europahaus. Hier, wo der Sekt schäumte und Johannes Heesters zum Abendessen kam, wurde Fuldaer Geschichte geschrieben.

Das Ende von Galeria Kaufhof in Fuldas Innenstadt ist besiegelt – doch was kommt danach? Vielleicht sollten sich die, die nach einem neuen Nutzungskonzept für das Areal in einer der besten Lagen Fuldas suchen, einfach an der Vergangenheit orientieren. Der Ort war jahrzehntelang ein Ort der Geselligkeit, der „Place to be“ der Fuldaer Jugend und Junggebliebenen: Hier stand das Europahaus.

 

Werner Riede erinnert sich noch genau an die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Als dort, wo später das Kaufhaus Kerber gebaut wurde, noch das Europahaus stand. „Das war das erste Haus am Platze, mit Restaurant, Tanzsaal und der modernsten Bar in Fulda“, sagt der 89-Jährige, der damals Küchenchef war. „Die Direktoren der umliegenden Banken kamen gerne zu uns zum Stammessen“, erinnert er sich. „Suppe, Hauptgericht und Dessert für 1,75 Mark.“ Im Gastraum habe es ein Forellenbecken gegeben, die Kellner servierten Spezialitäten wie „Lady Curzon“ (Schildkrötensuppe) und Filet Rossini im Frack. Jeden Donnerstag sei ein ganzes Schwein aufgetischt worden, „All you can eat“ für 2,50 Mark. Selbst Superstar Johannes Heesters, der regelmäßig in Fulda Theater spielte, kam den Erinnerungen des Küchenchefs zufolge öfter vorbei.

 

 

Die modernste Bar der Stadt, wilde Partys und eine eigene Hymne

 

Wilde Partys gefeiert wurden im Saal obendrüber. Vor allem die Rosenmontage sind Werner Riede in Erinnerung geblieben. „Wir hatten sechs Sektbars, die im ganzen Haus verteilt waren – an einer einzigen Bar wurden an diesen heißen Tagen fast 100 Flaschen ,Söhnlein Rheingold‘ ausgeschenkt.“ Vier Kapellen unterhielten die feiernde Meute. Europahaus-Direktor Anton Rudek widmeten seine begeisterten Gäste sogar einen Hymne. In „Heut geh’n wir ins Europa“ heißt es: „Willst du am Sonntag mal tanzen geh’n, richtig bummeln gehn, schöne Frauen sehn, dann brauchst du nur ins Europa gehn!“ Rudek war eine Institution in Fulda und der Schwager von Werner Riede. 1955 hatte er als Pächter die Gastronomie in dem Anwesen übernommen.

 

 

Kultur und Freizeitsport in der Nachkriegszeit

 

Restaurant und Bar waren freilich nur ein Teil des Ganzen: Das Areal erstreckte sich entlang der Rabanusstraße bis zur heutigen Wohnanlage „Sternengarten“. Hier betrieb der Eigentümer Hermann Becker ein Kinocenter, das man damals noch Lichtspiel-Theater nannte. 750 Menschen fanden in den Sälen Platz, hier lenkten sich die Fuldaer in Scharen von den Entbehrungen der Nachkriegszeit ab. Auch einen Tennisplatz gab es auf dem Gelände, ein Relikt aus den Jahrzehnten zuvor, als das Areal Vereinsgelände des Bürgervereins war.

 

 

Kein Ort der Traurigkeit

 

Auch in dieser Zeit, noch vor dem Ersten Weltkrieg, war das Haus kein Ort der Traurigkeit, wenngleich vor allem ein Domizil der feinen Gesellschaft. Der Heimatkundler und Autor Michael Mott schreibt in dem Buch „Fulda einst und heute“: „Am 15./16. Oktober 1892 mit einer Polonäse von 100 Paaren festlich eröffnet, war hier fast eine Art ,englischer Club‘ etabliert, dessen Mitgliedsbeitrag etwa den Monatslohn eines Arbeiters ausmachte.“ Und weiter heißt es: „Im Bürgerverein wurde getanzt, konzertiert, Theater gespielt (…). Einzigartig waren die Maskenbälle, aber auch gelehrige Vorträge. Würdige Philister saßen im Lesezimmer, und während des Ersten Weltkrieges fanden sich am ,Runden Tisch‘ die Herren ein, um über die Kriegsereignisse zu diskutieren.“

 

 

Die Jahre als Amerikahaus

 

Der Zweite Weltkrieg beendete das muntere Treiben in der Innenstadt. Das Gebäude wurde 1943 zum Lazarett, nach dem Krieg war es einige Jahre „Amerikahaus“. Damit wollten die Besatzer – wie in vielen anderen Städten der Republik – auch den Osthessen ihre Kultur, vor allem aber die Demokratie näherbringen. Doch das anfängliche Interesse ließ in den Jahren des Wirtschaftswunders nach, die Fuldaer wollten an diesem Ort lieber wieder Feste feiern, so dass 1953 aus dem Amerikahaus das Europahaus wurde. Die Bürger knüpften an alte Zeiten an – und der Gebäudekomplex wurde zum neuen „Place to be“.

 

 

Die Speisekarte zeugt vom Wirtschaftswunder

 

Die Speisekarte aus diesen Jahren – ein Exemplar hat die Jahrzehnte unbeschadet überlebt – zeugt vom Wirtschaftswunder, das vielen Wohlstand bescherte: 56 Gramm Beluga-Kaviar für 18 Mark war das teuerste Gericht auf der Karte, es gab Spezialitäten wie Krebsschwänzchen, Chateau Briand und Japanischen Thunfisch – insgesamt 120 Gerichte. Doch bei den Festen, die noch im Frühjahr 1957 gefeiert wurden, tanzten die Gäste wie auf einem Vulkan. Eigentümer Becker hatte sich offenbar finanziell übernommen, und so kam es schließlich zur Versteigerung des Komplexes.

 

 

Das Europahaus wich Kerbersch Koarl

 

Heimatforscher Mott berichtet darüber: „Amtsgerichtsrat Dr. Burchard erteilte für 1 280 000 DM, einem geheimnisvollem Unbekannten in Schwarz‘, der wegen des Fotografierverbotes nur ,skizziert‘ werden durfte, den Zuschlag.“ Die „Fuldaer Zeitung“ schrieb vom „Untergang Europas“ – und in der Tat: Der Käufer war der Kaufhaus-Inhaber Karl Kerber, der nach einem Filetstück in der Innenstadt suchte und für einen üppigen Neubau das Europahaus dem Erdboden gleichmachte. „Aus heutiger Sicht undenkbar“, erinnert sich Zeitzeuge Riede. „Das Gebäude hätte unter Denkmalschutz gestellt werden müssen – so wie viele andere Häuser in dieser Zeit.“ Immerhin bescherte Kerber den Fuldaern die erste Rolltreppe – damals eine echte Innovation.

 

 

 

Den Geist der Geschichte wiederbeleben

 

Europahaus-Pächter Anton Rudek und sein Schwager, Küchenchef Werner Riede, orientierten sich neu, eröffneten bald darauf „Tonis Bar“ und in den 60er Jahren das Hotel Europa in Neuenberg. Einiges aus dem Europahaus lebte an dem neuen Standort am Stadtrand weiter.

Aus Kerber wurde bekanntlich Kaufhof – und nun steht auf dem Areal in einer der exponierten Lagen der Innenstadt wieder eine Zäsur an. Fest steht: Die Zeiten der großen Kaufhäuser sind vorbei. Die Eigentümer überlegen, die Immobilie umzubauen oder abzureißen. Diesmal wäre ein Abriss der charakterlosen Nachkriegsarchitektur sicher keine Schande. Vielleicht eine Chance, den Geist der Geschichte an diesem Ort wiederzubeleben. Es müssen ja keine Tennisplätze oder Kinosäle sein.

 

Ein Text von Bernd Loskant

 

 

 

 

Ein Nachtrag aus der „Wir lieben Fulda“-Redaktion

 

Übrigens: Die Leidenschaft zum Kochen ist in Werner Riedes Familie geblieben. Sein Enkel Max von Bredow erzählt: „Mein Opa ist Koch, mein Vater ist Koch und ich bin Koch. Wir sind alle in der Gastronomie gelandet.“ Er verrät außerdem, dass sein Opa, heute 90 Jahre alt, die Familie noch immer gerne bekocht. Von Bredow kam 2019 ins Finale der TV-Kochshow „The Taste“ und startete danach mit dem Gastronomiekonzept „Supperclub“ in seiner Heimatstadt Fulda durch. Dort tischt er seinen Gästen ein Überraschungsmenü auf. Das kann mal deftige Fuldaer Küche sein, etwas Exotisches und auch regelmäßig Gerichte, die damals schon sein Opa servierte. Den japanischen Thunfisch auf Toast, der auf der Speisekarte des Europahauses stand, hat der Enkel auf einem Originalteller neu interpretiert.

 

 

Fulda hat so einige interessante Geschichten zu bieten und viele davon findet ihr hier auf unserem Blog. Wusstet ihr zum Beispiel, dass der alte Wasserturm des Bundesbahn-Ausbesserungswerkes heute ein ausgefallenes Wohnhaus ist? Besucht uns auch bei Facebook und Instagram für mehr Eindrücke aus unserer schönen Stadt.